1. Brief von Ulrike S.

Es ist ein zusätzliches Leiden bei der Zwangserkrankung, dass man nicht drüber reden kann, wie über ein gebrochenes Bein. Doch, reden drüber geht schon, nur schafft das meist keine Erleichterung, weil einen die Leute ansehen, als ob man von einem anderen Planeten käme. Ich hatte da selbst die schlechtesten Erfahrungen. Eigentlich hatte ich gar keine Erfahrungen, weil ich niemandem von meiner inneren Qual erzählen wollte. Nur mein Mann hatte davon gewusst. Andere haben mein komisches Verhalten wahrscheinlich auch beobachtet, aber nicht als Krankheit, sondern als merkwürdiges Verhalten und schlechte Charaktereigenschaften ausgelegt.

Nun gibt es bei der sogenannten Merkwürdigkeit des Zwanges auch noch Unterschiede. Ich was einmal bei einem Workshop. Betroffene waren froh, auch mal im kleinen Kreis über ihre Krankheit reden zu können, nicht nur bei einem Therapeuten. Auch einmal von anderen erzählt bekommen und erstaunt sein, dass sie nicht allein auf der Welt sind mit ihrer Erkrankung. Aber da gab es auch einige, die blieben ganz still. Sie waren nur Zuhörer. Ich habe ihnen angesehen, dass sie etwas enttäuscht waren. Sie haben sich nicht an den Gesprächen beteiligt. Sie konnten sich nicht mit den anderen austauschen und sich dadurch erleichtern und für sich profitieren. Für sie war es, als ob wir am Thema vorbeireden würden. Waschen, kontrollieren, ordnen, sammeln, nein all das waren nicht ihre Probleme. Sie haben sich, trotz der Offenheit der anderen, über die Zwänge zu sprechen, geschämt. Wir haben dann diese Schweigsamen direkt angesprochen: „Könnte es sein, dass hier gar nicht über die Symptome gesprochen wird, unter denen Sie leiden? Haben Sie vielleicht das Gefühl, Ihre Zwänge seien noch viel merkwürdiger und schwieriger zu schildern als die der übrigen?“ So war es dann auch. Darauf haben auch diese den Mut gefunden, zu erzählen. „Ich getraue mich nicht, von einem Raum in den anderen zu gehen. Weil ich fürchte, dass dann meine Mutter sterben wird.“ „Ich muß mit dem Kopf verneinende Bewegungen machen, damit der Teufel weiß, daß ich nicht meine Seele verkaufe.“ „Ich getraue mich nicht, auf der Straße den Menschen ins Gesicht zu schauen. Ich fürchte nämlich, jemand könnte meiner Freundin ähnlich sehen. Und wenn dies der Fall wäre, dann müßte ich gleich einen Gegengedanken haben zu meiner Befürchtung, dass die Freundin mich nicht mehr mag.“ „Ich muß in Gedanken den Weg zurückverfolgen, den die zehn Euro in meiner Geldtasche genommen haben, damit ich weiß, daß ich mich nicht durch Diebstahl schuldig gemacht habe.“ Ich darf auf der Straße auf keine Zigarettenkippe treten“, schilderte ein junger Mann. „Jemand der erst fünfzig Jahre alt ist, könnte die Zigarette geraucht haben. Wenn ich durch Drauftreten Kontakt mit dem Zigarettenstummel habe, dann werde ich nicht älter als fünfzig Jahre. Das ist mir zu wenig. Auch hundert Jahre sind mir zu wenig, hundertfünfzig auch. Ich will überhaupt keine Altersbegrenzung für mich aussprechen.“ „Aber dreihundert Jahre, das dürften Sie schon sagen“, fragte ich vorsichtig. Der junge Mann schaut mich vorwurfsvoll an. Ob ich ihm kein langes Leben wünsche, fragt er mich.

Ja, das sind auch Zwänge. Genauso, wie zwanghaftes Waschen und zwanghaftes Kontrollieren auch. Und auch für solche Zwänge gibt es Therapie. Eine Zwangserkrankung ist nichts, wovor Sie sich schämen müssen. Auch wenn Ihre Zwangsvorstellungen noch so anders und ausgefallen sind. Ich würde mir nur gut überlegen, wem ich davon erzählte. Sie müssten einigermaßen sicher sein, Ihr „Outen“ nicht zu bereuen. (Wenn Sie das Pech haben, daß auch ein Therapeut große erstaunte Augen macht, wenn Sie erzählen, dann sollten Sie wahrscheinlich einen anderen suchen, der mehr Erfahrung mit Zwangspatienten hat.)

Ich habe meiner Ursprungsfamilie nie etwas von meiner Erkrankung erzählt, weil ich wusste: Mit solchen Krankheitssymptomen sind die überfordert, ich hätte keinen Profit, keine Erleichterung davon, in meiner Ursprungsfamilie hat man mit psychischen Problemen an der frischen Luft spazieren zu gehen, das hilt und tut gut. Alles erzählen, ganz ohne sich zu schämen, das können Sie bestimmt bei erfahrenen Verhaltenstherapeuten. Kognitive Verhaltenstherapie heißt die Therapie genau; das sage ich Ihnen deshalb ausdrücklich, weil diese die Behandlung ist, die sich bei Zwängen brauchen.

Herzliche Grüße Ihre Ulrike S.

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