Brief einer ehemals Betroffenen an Nochbetroffene:
Liebe Zwangskranke!
Manche von Euch haben es selbst schon erlebt, manche wissen es aus dem Kontakt mit anderen Betroffenen oder aus dem Lesen von Fallberichten in Büchern für Zwangskranke:
Es gibt eigentlich nichts, worauf sich der Zwang nicht „draufsetzen“ kann. Kein Thema ist ihm fremd, vor nichts hat er Respekt. Überall möchte er seine Nase hineinstecken, nicht einmal vor dem Leben im Jenseits macht er mit seiner Bangemacherei Halt.
Manchmal sind selbst Zwangskranke sogar verleitet zu denken: Nein, was der oder die
befürchtet, das ist doch eigentlich „komisch“. Aber meistens können wir uns ganz gut in die Befürchtungen anderer einfühlen.
Vor ein paar Tagen hatte ich Kontakt mit einem jungen Mann, Herrn B., der unter zwanghafter Angst vor Aids Erkrankung leidet. Ihr wißt ja, daß das Zwangsthema meist einen wahren Kern, einen wahren Ursprung hat. Im Fall von Aids wäre das also: Aids kann ansteckend sein. Nur, was der Zwang daraus macht, das ist immer völlig übertrieben, aufgeblasen und unrealistisch. So verhält es sich auch bei der Möglichkeit, sich mit dem HIV-Virus anzustecken. Nun, was den jungen Mann betrifft, so habe ich ihm gegen Ende unserer Begegnung ein paar hilfreiche Sätze, seine Aidszwänge betreffend, aufgeschrieben. Er liest sich noch die Hilfestellungen durch und sagt dazu: Ich habe schon Schwierigkeiten, das Wort “Aids“ auch nur zu lesen.
Da hat er sich „geoutet“, der Gute! Denn das dürfen wir natürlich nicht durchgehen lassen, dass man nicht einmal mehr lesen darf, was als Erkrankung zwanghaft gefürchtet wird. Das Lesen war also schwer – das Schreiben des Wortes noch schwerer. Zu zweit war es möglich. Zuerst noch mit einigem Widerstreben, dann wurde die „Schreiberei“ schon etwas leichter: AIDS in Großbuchstaben, in Schreibschrift, von hinten nach vorne hat er „sdia“ geschrieben, die Buchstaben hat er durcheinandergewürfelt: dias.
Dazu die Anleitung und Erklärung: Ein Wort ist ein Wort, sonst gar nichts. Eine Angelegenheit mit vier Buchstaben ist das. Was wir draus machen, das ist eine andere Sache. Welche Bedeutung wir dem Wort beimessen, das hängt von uns ab.
Der Arzt zum Beispiel sagt: Aids ist eine Viruserkrankung, man kann sich davor gut schützen. Wir versuchen, die Behandlung von Aids zu verbessern.
Der Wissenschafter mag sagen: Wir erforschen, eine Impfmöglickeit gegen Aids zu entwickeln. Der Neugierige sagt: “Aids“, ich möchte wissen, was diese Abkürzung wirklich bedeutet. Der Therapeut sagt: Aids, das kommt in Ihrem Leben nicht vor, weil Sie weder fixen, auch keinen ungeschützten Verkehr mit HIV-Positiven haben und drauf achten würden, nur in Krankenhäusern Ihres Vertrauens (im entfernten Ausland) eine Bluttransfusion zu bekommen.
Solche, die glauben, dass Gott so denkt wie die Menschen, der meint: Aids ist eine Strafe Gottes. Und der arme Zwangspatient, der, von dem ich gesprochen habe, der sagt: Dieses Wort darf ich gar nicht schreiben, sonst passiert etwas.
Sehen Sie, ähnlich kann man mit Vielem umgehen, das der Zwang ganz unrealistisch als bedrohlich erscheinen lässt. Nehmen wir zum Beispiel einen Stuhl her. Der Waschzwang mag sagen: Ein fremder Stuhl ist ekelig, ich möchte mich nicht drauf setzen, sonst muß ich mich duschen und meine Kleider waschen.
Der Sachliche sagt: Ein Stuhl ist ein Stuhl und sonst gar nichts. Er ist zum Sitzen da oder zum Draufsteigen, wenn ich etwas von oben aus der Bücherwand holen will.
Der Tischler sagt vielleicht: Das ist ein schlecht gearbeiteter Stuhl, der wird nicht lange halten. Der Therapeut sagt: Ein Stuhl ist Möbelstück, was der Zwang draus macht, was der über den Stuhl behauptet, das lassen wir links liegen. Oder aber:
Das ist ein gefährlicher Herd, sagt der Zwang, er könnte das Haus niederbrennen lassen. Es ist, was es ist, sagen wir, eine praktische Angelegenheit zum Wärmen und Bereiten von Speisen.
Eine andere Patientin blättert schnell weiter, wenn sie in der Zeitung eine Todesanzeige liest. Sie glaubt, allein das Lesen von Todesanzeigen könnte böse Folgen haben. Wie verschieden gehen Menschen mit Todesanzeigen um:
Es gibt solche, davon habe ich gehört, die lesen die Todesanzeigen einer Zeitung zuallererst. Einfach aus Neugier.
Ärzte lesen manchmal Todesanzeigen, ums sich zu vergewissern, ob ihre Patienten wohlauf sind. Es gibt auch den bösen Witz, da gehen zwei an einem Haus mit schwarzer Fahne vorbei. Da fragt der eine den anderen: “Wer ist denn da gestorben?“ Jener sagt: “Mir ist jeder recht!“
Es gibt solche, die benützen Todesanzeigen, um ihre außerordentliche Herkunft aufzuzeigen. Oder solche, die glauben machen, daß der Verstorbene untadelig und ein Mensch von sagenhafter Güte war. Jetzt könnten Sie sich vielleicht schon selbst ausmalen, wie man, als ängstlicher Zwangskranker, der alles mit sich unheilvoll in Verbindung sieht, auch mal anders damit umgehen könnte. Ich denke mir, das könnte so funktionieren: Eine Todesanzeige ist ein Bekanntmachen einer
traurigen Angelegenheit, aber was hat diese Anzeige mit mir zu tun?
Oder: Eine Todesanzeige ist, ganz nüchtern betrachtet, nichts anderes als Buchstaben in Druckerschwärze, auf Papier geschrieben. Wie ich damit umgehe, das ist meine Sache, aber der Zwang hat dabei nichts zu suchen.
So könnten Sie, liebe Zwangskranke mit vielen bedrohlich erscheinenden Dingen oder
Zuständen in Ihrem Zwangsleben umgehen.
Es ist, was es ist und nicht, was der Zwang daraus macht!
Herzliche Grüße
Ihre Ulrike S.
(Bücher: “Der Weg aus der Zwangserkrankung.“ Bericht einer Betroffenen für ihre Leidensgefährten.
„Hilfreiche Briefe an Zwangskranke.“ Ulrike S., G. Crombach, H. Reinecker, Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, Transparent.