23. Brief von Ulrike S.

Liebe von der Zwangserkrankung Betroffene, Für all jene, die mich von der Seite her noch nicht kennen, möchte ich mich noch kurz vorstellen: Ich habe 27 Jahre lang zunächst unter Kontrollzwang und dann, sich verschiebend, unter Waschzwang gelitten. In dieser langen Zeit des Krankseins haben sich außerdem verschiedenste andere Zwanghaftigkeiten dazugesellt (religiöse Zwänge, zwanghaftes Zählen, …..), so dass ich schon aus eigenem Erleben viel Verständnis dafür habe, was Zwangserkrankung bedeuten kann. Es war eine zunehmend sehr schlimme Zeit, ich war mir so fremd geworden. „Wie kann ich überhaupt noch funktionieren?“, das war meine große Angst. Endlich hatte ich erfahren, daß es Hilfe gibt, das war die Kognitive Verhaltenstherapie.

Diese hatte zwei Jahre gedauert, dann war der „Spuk“ vorbei. Anschließend an die beendete Therapie konnte ich 13 Jahre lang bei meinem ehemaligen Therapeuten als Cotherapeutin arbeiten. Das war ein „Job“, der sich aus meinem Interesse für die Behandlung von Zwangskranken ergeben hatte und eigentlich nicht als Berufsbild möglich und etabliert ist. Nach Beendigung dieses „Jobs“ habe ich auf der www.zwaenge.at das „Sorgentelefon“ übernommen. Das wäre also ganz grob umrissen mein „Steckbrief“.

Heutzutage gibt es viel mehr an Informationsmöglichkeiten rund um die Zwangsproblematik als zur Zeit meiner Erkrankung. Da hat sich in den letzten Jahrzehnten viel getan. Der Beginn meiner eigenen Erkrankung liegt nun schon an die 30 Jahre zurück. Damals hieß es: Es gibt keine Therapie. Mir wurde lediglich empfohlen, möglichen Auslösern von Symptomen aus dem Weg zu gehen. Das war eine schwer erfüllbare Empfehlung, da meine Zwänge doch so sehr mit den Mitmenschen und den Erfordernissen in meinem Alltag zu tun hatten! Heute gibt es gute Therapiemöglichkeiten und Medien, die davon berichten.

Deshalb habe ich mir vorgenommen, Euch hauptsächlich davon zu erzählen, was mir in meiner eigenen Therapie besonders geholfen hat, und was ich durch meine Erfahrungen zum Abbau von Zwängen gut finde. Die Ratschläge sind also von mir erprobt, denn ich habe eine erfolgreiche, erlebnisreiche, aber schon recht schwierige und fordernde Therapie hinter mir. Jetzt also zur wohl wichtigsten Erfahrung, die ich gemacht habe:

Ohne zum Teil massiven Einsatz und vertrauensvolle Zusammenarbeit mit dem Therapeuten oder der Therapeutin wird Therapie wohl nicht so gelingen, daß sie nachhaltig hilft und erhebliche Besserung, wenn nicht gar praktisch Freisein von den Symptoen bringt.

Auf zur Erfahrung Nummer zwei:

Mir hatte das Modelllernen sehr viel gebracht. Ich muß immer wieder an dieses Lernen denken, wenn ich beobachte, wie meine dreijährige Enkelin ständig nachmacht, was ihr der fünfjährige „große Bruder“ vormacht. Sie lernt Treppensteigen wie er das schon kann und Puzzlespielen und von eins bis zehn zählen. Dass der große Bruder dieses Nachahmen seiner kleinen Schwester auch manchmal ausnützt und sie zu allerhand Lausbübereien animiert, das ist eine andere Geschichte! Kinder lernen durch Nachmachen. Zwangspatienten sind in manchen vom Zwang besetzten Situationen in ihrer Unsicherheit wie kleine Kinder. Das sollen und dürfen wir uns eingestehen, dann können wir auch unsere zwangsbedingte Hilflosigkeit akzeptieren und durch vertrauensvolles Nachahmen lernen, was Therapeuten uns zeigen. Das gilt für`s Handeln, wie auch für`s Denken und für`s Aufgeben von alten Vorstellungen. So war die Begleitung und das Vormachen durch den Therapeuten dort, wo der Zwang stattfindet, für mich zunächst von geradezu lebensnotwendiger Bedeutung. Patienten können daran lernen, wie der Therapeut Hände wäscht, eine Türe schließt, sie lernen durch miteinander Arbeiten beim Hausbesuch, dass Dinge stehen dürfen, wie Sie es wollen und nicht wie der Zwang das einfordert; daß Einkaufen auch recht fein sein kann und kein von Zwangsangst begleiteter Spießrutenlauf; dass ein Nachfragen an der Kasse im Warenhaus oder im Gespräch mit anderen unterbleiben darf – ohne die zwanghaften Grübeleien danach. Vieles kann durch „Abschauen“ und Nachahmen gelernt werden.

Ich war, das habe ich schon erwähnt, durch viele Jahre sogenannte Cotherapeutin. Das ist meines Wissens leider noch kein wirklicher Beruf mit Ausbildung und Berufsabschluß. Aber Therapeuten können selbst mit Euch „vor Ort“ gehen, oder angebunden an Institutionen medizinisches Personal (z.B. psychiatrische Krankenpfleger oder Pflegerinnen) oder auch Psychologiestudenten in Ausbildung bitten, Euch in Form von Zusammenarbeit mit dem Therapeuten begleitend helfen.

Und nun zu Therapieerfahrung Nummer drei:

Die Therapie der Wahl für Zwangskranke heißt Kognitive Verhaltenstherapie. Kognitiv heißt hier: die Erkenntnis betreffend. Die Erkenntnis, dass frühere Vorstellungen im Denken und Handeln von der Zwangskrankheit herrühren können; dass Ihr lernen solltet, diese alten Vorstellungen aufzugeben um euch auf Neues einlassen zu können. Das heißt z. B. zu lernen, dass es nichts Hundertprozentiges gibt, dass wir uns auch mit Fehlern gern haben dürfen und von anderen (netten!) Leuten akzeptiert und gemocht werden. Dass nicht jedes Übersehen gleich zur Kathastrophe führt. Dass es Missverständnisse geben darf, dass es absolute Sauberkeit und Freisein von Keimen nicht gibt, dass wir auch mal etwas riskieren sollen, sonst erstarren wir im ewig Althergebrachten; dass Gott (so wir an Gott glauben) unendlich barmherzig ist. Wir lernen, uns wieder selbst zu vertrauen.

All diese Erkenntnisse habe ich für mich geradezu lebensnotwendig in die Therapie gepackt. Ich habe das „Hilfsgedanken“ genannt und die verschiedensten Hilfsgedanken vor, während und nach Therapieschritten eingesetzt. Obwohl ich mich im großen und ganzen zwangsfrei nennen darf, mag ich solche Hilfssätze heute noch gerne. Vorsicht! Wenn ihr z.B. Angst habt, ihr könntet Eurem Kind etwas antun, dann sagt nicht: „Ich bin doch eine gute Mutter.“ Das ist kein Hilfsgedanke, sondern eine Rechtferigung für einen Zwangsgedanken. Mit dem Zwang diskutiert man nicht, der will immer das letzte Wort haben.

In der Therapie hätte ich mir neues Handeln Lernen nicht ohne die Begleitung von hilfreichen Gedanken vorstellen können. Ich habe das, glaube ich, in einem meiner drei Büchlein beschrieben: Da habe ich mir einmal vorgenommen, zum Bahnhof zu gehen und mich dort therapiemäßig herumzutreiben. Das klingt jetzt locker aber für mich war das damals schon eine riesen Herausforderung. Große Angst habe ich vor dem für mich so ekeligen Bahnhof gehabt. Auf dem ganzen Weg zum Bahnhof habe ich mir vorgeagt: „Es ist nichts, was ich zu fürchten brauche.“

So, das waren meine drei wichtigesten Ratschläge. Was ich sonst noch erlebt habe, als Kranke, in Therapie, als Gesunde danach, das könnt ihr in meinen drei Büchlein nachlesen.

Liebe Betroffene! Etwas zum guten Schluß: Internet kann für Informationen gut sein, aber lesen Sie die negativen Erfaharungen von Betroffenen lieber nicht. Wer weiß, weshalb manche keinen oder wenig Erfolg hatten. Probiert es lieber selber aus, lasst Euch auf Hilfe in Form von Kognitiver Verhaltenstherapie ein. „Ich bin neugierig, was passiert,“ hatte kürzlich ein Anrufer gesagt, der sich nach zehn Jahren Krankheit mutig zu einer Therapie angemeldet hat. „Ich kann mir nicht vorstellen, wie ich durch eine Therapie von meinem zwanghaften Verhalten lassen kann“, das höre ich auch immer wieder und konnte es mir vor meiner Therapie auch absolut nicht vorstellen. Diese Therapie muss man erleben, dann stellt sich die Einsicht ein. Ich selbst habe Therapie zunächst gefürchtet und gleichzeitig sehr herbeigesehnt. Unvorstellbar, wenn ich mich nicht drauf eingelassen hätte!

Und noch etwas: Schließt nach beendeter Therapie nicht aus, Euch wieder einmal ein Auffrischungsgespräch beim Therapeuten zu gönnen, wenn ihr das gut für Euch findet. Der Zwang hängt sich gerne an schwierige Lebenssituationen.

Ich grüße Euch recht herzlich und wünsche Euch Ausdauer, Mut und viel Kraft in der Therapie. Es darf ruhig eine Schritt-für-Schritt Therapie sein, für die ihr Euch und dem Therapeuten Zeit geben könnt.

Ich heiße Euch herzlich willkommen beim „Sorgentelefon“.

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