4. Brief von Ulrike S.

Vierter Brief einer ehemals Betroffenen an Nochbetroffene! Liebe Zwangskranke! 
Heute möchte ich nicht direkt an Euch schreiben, sondern an jene, die mit Euch engen Kontakt haben. Die von Euren Zwängen wissen, aber unsicher sind im Umgang mit Euch in Eurer Erkankung.
Manche von Euch haben es vielleicht noch gar nicht gewagt, sich Angehörigen oder Freunden anzuvertrauen, weil sie sich ihrer Zwänge wegen schämen. Einer Krankheit wegen muss man sich nicht schämen. Vielleicht schreibe ich Euch das nächste Mal über die unnötigen Schamgefühle; diesmal möchte ich mit den Angehörigen reden. Das kann auch für Euch eine Hilfe sein.
Es gibt bezw es gab einen Leitfaden für Angehörige von Zwangskranken, verfasst von Ulrike Demal aus Wien und Julia Langkrär aus Bochum. Dieser Leitfaden ist vergriffen, ich konnte aber noch ein Exemplar ergattern. Rudi von der Selbsthilfegruppe in Wien hat mir den Leitfaden kopiert. Ich danke ihm an dieser Stelle herzlich.
Wenn ich Euch, bzw. Euren Angehörigen jetzt schreibe, dann geschieht das in Anlehnung an diesen Leitfaden, verkürzt gebe ich ihn wider und mit einigen eigenen Erfahrungen und Gedanken. 

Liebe Angehörige! 
Sagen Sie zum Zwangserkrankten in Ihrer Familie oder Ihrem Umfeld nicht: „“Lass das einfach sein! Mach-es doch wie ich! Lass Dich nicht so gehen!“ „“Tu nicht so dumm!“
Sie bewirken damit gar nichts. Der Zwangskranke würde sich ja gerne Ihren Ratschlägen entsprechend verhalten. Aber er kann es nicht! Es ist eine psychische Erkrankung, die ihn daran hindert. Die Krankheit ist mit Gefühlen von Angst und Anspannung, ja sogar von Panik verbunden. Wenn Sie als Angehörige sein Verhalten als Marotte auslegen, die er doch endlich bleiben lassen sollte, dann erreichen Sie damit lediglich, daß er sich noch deprimierter und schuldiger wegen seines Unvermögens fühlt.
Holen Sie sich Informationen, z.B. auf der Homepage von Theresa oder in Büchern aus der Buchhandlung. Es gibt heutzutage jede Menge an guter Aufklärungsliteratur. Viele Bucher für Zwangskranke beinhalten auch einen Teil, der sich an Angehörige wendet. 
Lassen Sie den Erkrankten fühlen, dass Sie auf seiner Seite stehen. Dass Sie ihn gerne mögen, aber dass der Zwang Ihnen das manchmal schwer macht.
Fühlen Sie sich nicht schuldig für die Zwangserkrankung Ihres Angehörigen. Zwangserkrankung entsteht nicht dadurch, daß jemand etwas falsch gemacht hat. Zwangserkrankung hat auch nicht „“nur eine Ursache“.
Glauben Sie nicht, Sie könnten Ihren Angehörigen „“therapieren“. Es gibt Selbsthilfebücher, die vermitteln den Eindruck, dass man die Erkrankung auch ohne Therapie in den Griff bekommen könnte. Ihr Angehöriger braucht einen Verhaltenstherapeuten oder eine Verhaltenstherapeutin. Kognitive Verhaltenstherapie, so heißt die Therapie für Zwangskranke.
Sie können und sollen sich nicht so verhalten, als ob ihr Angehöriger gar nicht krank wäre. Dieser Weg wäre zu rigeros, sie hätten wahrscheinlich zu viel Streit und sehr unangenehme Diskussionen mit dem Erkrankten. Aber lassen Sie sich auch nicht zu sehr in das Zwangssystem hineinziehen. Sie sollten es schaffen, dem Zwangsverhalten gegenüber Grenzen zu ziehen. Das klingt leicht, aber ich weiß aus eigener Erfahrung, dass jeder Kranke versucht, den Angehörigen immer mehr den „“eigenen Wünschen“ (die doch nur die Anforderungen des Zwanges sind und ihn oft ungeheuer leiden lassen) anzupassen. Gehen Sie zum Fußball, wenn Ihnen das Freude macht. Geben Sie nicht das Treffen mit Ihren Freunden auf, weil „der Zwang“ das so verlangt. Der Zwang ist mächtig, es wird für Sie oft nicht leicht sein, sich diesbezüglich durchzusetzen. Auch wenn der Erkrankte es im Moment nicht gut einsehen kann: Es ist wichtig, dass der Angehörige nicht seine Lebensfreude verliert, weil er immer mehr eigene Ansprüche aufgeben muss.
Noch schwerer mag es oft sein, dem Erkrankten nicht in seinem Zwangsverhalten „„zu helfen“. Auch das wird Fingerspitzengefühl von Ihnen verlangen. Der Zwang zielt daraufhin, Ihren Erkrankten in einem Teil seines Lebens geradezu zu entmündigen. Der Zwangskranke traut sich immer weniger zu und will sich immer mehr bei Ihnen – auf die Dauer die Krankheit verschlimmernde – Hilfe holen. Sie sollen ihn in großer Not nicht sich selbst überlassen, das könnte ihn überfordern. Aber das ständige Rückversichern, Kontrollen abnehmen, alle Verantwortung übernehmen, das auf den Zwang eingehen, das verlängert und verstärkt auf Dauer die Krankheit. Der Zwang will immer mehr, das heißt, durch diese Ihre „Hilfestellungen“ tragen Sie dazu bei, daß die Krankheit ärger wird. Auch hemmen Sie dadurch die Motivation des Erkrankten, in Therapie zu gehen. Es ist nun einmal so, dass Zwangskranke oft erst eine Therapie aufsuchen, wenn Ihnen „“das Wasser bis zum Hals steht“. Ich habe es als „“Helferin“ staunend miterlebt, wie schnell Therapie greifen kann, wenn Patienten früh in Behandlung gehen.
Versuchen Sie, Therapiefortschritte zu bemerken und diese dann auch mit Lob zu versehen. Wenn Sie über Zwänge ausreichend Bescheid wissen, dann verstehen Sie auch, dass ein Therapiefortschritt nicht mit großen Veränderungen einhergehen muss. Wenn Ihr Angehöriger sehr aufgeregt davon berichtet, dass er jetzt täglich nur noch ein Stück Seife braucht, dann messen Sie diesen Erfolg nicht an dem Verhalten von Gesunden. Oft gelingt das Ablegen von Zwängen nur Schritt für Schritt. Vielleicht kommt Ihr Kranker in Therapie im nächsten Momat mit einem halben Stück Seife pro Tag aus! Das ist doch was, nicht wahr?
Es kann sein, dass der Abbau der Zwänge nicht nur reine Freude bringt. Vielleicht hat der Erkrankte mit Ihnen viel über die Symptome gesprochen. Mag sein, die Krankheit war Wichtigkeit Nummer eins in der Unterhaltung und im Tages- und Wochenendablauf. Vielleicht brauchen Sie auch jetzt eine gemeinsame Beratung beim Therapeuten, um mit den neuen Gegebenheiten fertig zu werden.
Liebe Angehörige, ich hoffe, ich konnte Ihnen ein wenig in Ihrer schwierigen Situation behilflich sein. Schauen Sie ab und zu auf die Seite von Theresa. Sie werden erfahren, daß „“Ihr Erkrankter“oder „“Ihre Erkrankte“ viele Leidensgefährten hat. Aber Sie werden auch dort darüber informiert, daß es Hilfe gibt. Es gibt auf der Seite auch eine Therapeutenliste. Bitte bedenken Sie: Der Zwangskranke muss selbst eine Therapie wollen. Gespräche mit Betroffenen in Therapie oder mit ehemals Betroffenen und deren guten Therapieerfolgen könnten hilfreich sein, selbst eine Therapie zu wagen. Wenn Sie als Angehöriger (oder als Betroffener) dringend Hilfe brauchen, dann kann Ihnen Theresa in vorhergehender Rücksprache mit mir meine Telefonnummer geben.
Liebe Grüße
Ihre Ulrike S.

Bücher:
„„Der Weg aus der Zwangserkrankung“ (Bericht einer Betroffenen für ihre Leidensgefährten);
„„Hilfreiche Briefe an Zwangskranke“. Ulrike S., G. Crombach, H. Reinecker, Verlag Vandenhoek Transparent

Print Friendly, PDF & Email