5. Brief von Ulrike S.

Brief einer ehemals Betroffenen an Nochbetroffene!
Liebe Zwangskranke! 
Kürzlich habe ich Post von einer ehemaligen Patientin bekommen. Sie hatte, von auswärts gekommen, in Innsbruck Therapie gemacht, und ich durfte ihre Kotherapeutin sein. Eigentlich hatte die arme Frau B. sehr an einem Waschzwang gelitten. Ganz losbekommen hat sie ihn noch nicht, aber sie weiß mit ihrem Leiden sehr gut umzugehen. Und es gibt nichts, was ihr der Zwang in ihrem Leben verwehren könnte. Eine tapfere Kämpferin ist sie. Wie sah nun deren Behinderung durch den Zwang aus? 
Frau B. durfte nichts berühren, was irgendwie beschädigt war: Leicht angeschlagenes Porzellan z. B. oder einen Knick im Buch, das sie gerade lesen wollte. Eine nicht perfekte Naht im T-Shirt, das sie kaufen wollte, konnte ihr das Leben sauer machen. Eigentlich waren ihre Nöte genauso behindernd und angstauslösend, wie die von Zwangskranken, die Angst vor „“Schmutz“ oder Krankheitserregern haben.
Ihr zusätzliches Leiden war, dass auch die Dinge, die sie selbst berührt hatte, nicht mehr „“in Ordnung“ waren. So konnte ihr das Waschen von Beschädigtem eigentlich gar nicht helfen, weil die Dinge beim Reinigen wiederum durch ihre eigenen Hände „“verunreinigt“ wurden. So gemein kann der Zwang sein, so raffiniert kann er Betroffene leiden lassen! Ich erzähle von dieser etwas „vom „Üblichen“ abweichenden Symptomatik, damit sich manche nicht so merkwürdig und ganz allein fühlen, solche, die auch an besonders skurrilen Zwangserscheinungen leiden. Es gibt eben nichts, was sich der Zwang nicht zum Futter nimmt. Kein Grund, sich dafür zu schämen.
Aber wohl ein Grund, um sich dafür eine Therapie zu suchen. Ich sage es immer wieder und auch von Theresa hört ihr das: Es ist die kognitive Verhaltenstherapie, die Zwangspatienten hilft. 
Ich habe dieser Patientin, von der ich zuvor erzählt hatte, am Ende der Therapie ein „“Abschiedsgeschenk“ gemacht. Natürlich war das ein Geschenk, das zunächst nicht wirklich als solches empfunden worden war. Es war eher eine Herausforderung, ein Helfer gegen den Zwang. Ich habe in einem Geschäft ein Vögelchen aus Ton gekauft, das eine leichte „“Verletzung“ hatte. Kurz gesagt: Es hatte einen kleinen Sprung im Ton. Das zu berühren und zu akzeptieren, sich an das „“unvollkommene“ Vögelchen zu gewöhnen, das war der pädagogische Sinn meines Abschiedsgeschenkes.
Therapeuten und auch Kotherapeuten müssen halt dazu ermuntern, etwas zu tun (oder auch sich zu denken getrauen), von dem der Zwang behauptet: Achtung, es wird etwas passieren! Zu lernen und zu erleben, dass eben nichts passiert, dass man nicht schuldig wird, dass man kein Unheil verursacht, dass etwas nicht zu ekelig oder krankmachend ist oder dass Gedanken nichts bewirken können, all diese neuen Erkenntnisse zu gewinnen, dazu verhilft diese Therapie! 
Meine Frau B. hat also den kleinen Vogel mit nach Haus genommen und wenn es ihr wieder einmal nicht so geht, dann nimmt sie ihn in ihre Hände, zum Üben und zum neuen Mut gewinnen. Noch etwas wichtiges hat Frau B. gelernt: Dinge, die man berührt, können nicht „„schlecht“ werden. So etwas sagt nur der Zwang, wohl diktiert durch ein sehr angeschlagenes Selbstwertgefühl. So hatte Frau B. gelernt, dass die von ihr berührten Dinge nicht schlecht werden. Im Gegenteil, sie hatte gelernt sich vorzustellen, dass Dinge, die sie berührt, wie durch einen Zauberstab vergoldet werden.
Ich habe mich in meinem Antwortschreiben nicht an Sie selbst, sondern an das kleine verletzte Vogelkind gewandt. Der „Briefschreiber“ war eine kleine Maus aus Porzellan, die, mit einem Sprung am Ohr, auf meinem Balkon steht:
Liebes kleines verletztes Vogelkind! Ich habe Deine Geschichte gehört, und deshalb sollst Du wissen, daß es hier in Innsbruck deinesgleichen gibt. 
Ich bin ein kleines Mäuschen mit einem angeklebten Ohr und stehe auf dem Balkon jener Frau, die Dich den Händen mit dem verwandelnden goldenen Stab von Frau B. anvertraut hat. Weißt Du s noch? Hast Du’s auch gehört, wie sie, „die „Therapeutin“ (die eigentlich nur Hausfrau mit eigenen Erfahrungen und Erfahrungen aus Kotherapie ist) gesagt hat: Ein Vogelkind ist ein Vogelkind – und sonst gar nichts. Ein verletztes Vogelkind ist ein verletztes Vogelkind – und sonst gar nichts.
Was so manche draus machen, das ist eine andere Geschichte. Das interpretieren diese (nämlich die vom Zwang an der Nase Herumgeführten) selbst hinein. Das hat mit einem etwas angeschlagenen Vogerl oder Mäuschen mit geklebten Ohr gar nichts zu tun. Vogelkind, jetzt sage ich Dir etwas: 
Diese „“Therapeutin“, von der da die Rede war, die hatte auch so allerhand außergewöhnliche Vorstellungen, wie die Welt rund um sie herum aussehen sollte. Da ging es nicht um das Unverletzte, sondern um das Unbeschmutzte. Ist ja einerlei, auf die auslösenden schlechten Gefühle und angstmachenden Empfindungen kommt es hier an, nicht auf unverletzt oder rein. Das ist Dir sicher auch zu Ohren gekommen, liebes heilsames Vogelkind – in Deiner Innsbrucker Zeit.
Ich weiß, was „die „Therapeutin“(die so vieles „„rein“ haben wollte) macht, wenn sich besondere Ansprüche wichtig machen möchten, und solches passiert auch ihr, sie hat doch auch noch das Gedächtnis an frühere Zeiten und manchmal besondere Wünsche im Sinn von „“Weghabenwollen“. Ihr höre, wie sie manchmal mit sich selbst spricht und recht freundlich sagt: „“Das tut Dir gut.“ Sie sagt das, wenn sie im Sinne von früheren Zeiten etwas stören möchte. ,,Das tut Dir gut,“ höre ich sie sagen. Sie sagt nicht: „„Das musst Du aushalten!“(das ist auch richtig!) . Nein, sie sagt in nettem Ton zu sich selbst: „“Das tut Dir gut.“( im Sinne von: Das erhalt Deine psychische Gesundheit! Das hilft Dir am Ball bleiben!)
Also, kleines verletztes Vogelkind, sei Dir dessen bewusst, dass Du etwas besonderes bist, 
denn: Du tust der Frau B. gut.“ 
Liebe Grüße, Dein Innsbrucker Mäuschen, das mit dem verletzten Ohr! 
Liebe Grüße auch an Sie, liebe Betroffene!
Bis zum nächsten Brief!
Ihre Ulrike S. 
(Bücher:,,Der Weg aus der Zwangserkrankung“, Ulrike S., G. Crombach, H. Reinecker, 
Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen. 
„Hilfreiche Briefe an Zwangskranke“, Ulrike S., G. Crombach, H. Reinecker, Verlag 
Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen.

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