»1. Wenn Sie den begründeten Verdacht haben, daß jemand in Ihrer Umgebung an einem Zwang leiden könnte und sich Ihnen gegenüber nicht äußert, so sprechen Sie ihn darauf an. Sagen Sie ihm, Sie vermuteten, er leide an Ängsten, die er sich selbst nicht erklären könne. Im Interesse aller sei es besser, wenn er mit Ihnen darüber rede. Spionieren Sie ihm nicht nach, aber wenn Ihnen immer wieder merkwürdige Verhaltensweisen auffallen, so bringen Sie sie zur Sprache.
2. Geraten Sie nicht in Panik, wenn Ihre Vermutung sich bestätigt. Zwänge sind Krankheiten, derer man sich nicht zu schämen braucht, und für die es Hilfe gibt.
3. Suchen Sie nicht die Schuld bei sich selbst oder bei anderen. Zwänge entstehen nicht dadurch, daß jemand etwas falch gemacht hat. Sie haben viele Ursachen.
4. Versuchen Sie nicht über Appelle oder moralischen Druck auf den Kranken einzuwirken. Durch Sich-Zusammennehmen, Seinen-Verstand-Gebrauchen oder Sich-Ablenken kann er seine Ängste nicht ablegen.
5. Wenn der Zwangskranke nicht von seinen Symptomen lassen kann, auch nachdem Sie eingeweiht sind, so stellen Sie nicht die ganze Beziehung in Frage. Sagen Sie nicht: Ich bin ihm nicht wert, daß er sich Mühe gibt. Werfen Sie ihm nicht vor, daß Ihre Zuwendung ihm nicht ausreicht, um mit seinen Problemen fertig zu werden.
6. Fragen Sie ihn nicht ständig, wie er sich fühlt. Bohren Sie nicht, um genauer zu erfahren, was in ihm vorgeht. Es ist sehr schwer für ihn, über seine Erlebnisse zu sprechen, v.a. dann, wenn sie ihm selbst schon schrecklich oder verrückt vorkommen.
7. Lassen Sie sich auf keinen Fall auf immer neue Diskussionen darüber ein, wie groß z.B. eine Ansteckungsgefahr in Wirklichkeit sei, oder darüber, ob ein Risiko zumutmar sei oder nicht. Sie können niemandem seinen Zwang dadurch ausreden, daß Sie vernünftig mit ihm diskutieren. Der Kranke erlebt die Dinge anders als Sie.
8. Es bedeutet kein Versagen Ihrerseits, wenn Sie ihm mit dem normalen Menschenverstand nicht helfen können.
9. Jeder Kranke versucht, seine Ängste so gering wie möglich zu halten. So erwartet er auch von Ihnen, daß Sie sich an seine Regeln halten, um ihn so wenig wie möglich zu belasten. So sollen z.B. auch Sie die Einkaufstasche nicht auf den Tisch stellen, ohne sie abgewischt zu haben. Setzen Sie hier Grenzen. Lassen Sie sich nicht endlos in das System hineinziehen. Wenn immer neue Vorsichtsmaßnahmen von Ihnen verlangt werden, so sagen Sie klipp und klar: Das tue ich nicht! Und halten Sie sich daran.
10. Das mag grausam klingen, aber vergessen Sie nicht, daß der Kranke die Grenzen von außen spüren muß, um eine Motivation zur Veränderung zu entwickeln.
11. Diskutieren Sie nicht mit ihm über Ihre Entscheidung, und lassen Sie nicht mit sich handeln. Wenn es zu Gefühlsausbrüchen kommt, so versuchen Sie, ruhig zu bleiben, und äußern Sie Ihr Mitgefühl. In der Sache aber bleiben Sie hart.
12. Verfallen Sie nicht in die Sprache des Kranken. Fangen Sie nicht auch an, von Schimmelpilz an der Türklinke zu sprechen oder vom bösen Nachbarn. Sie sagen einfach: »Die Nachbarin, die du für eine böse Frau hältst …«.
13. Geben Sie dem Kranken nie das Gefühl, daß Sie ihn »verraten«, etwa dadurch, daß Sie ohne sein Wissen mit jemand anderem über seinen Zwang sprechen.
14. Bei allem, wobei der Zwang keine oder nur eine geringe Rolle spielt, sollten Sie mit dem Kranken ganz normal umgehen. Helfen Sie ihm dabei, nicht den Anschluß an das Leben zu verlieren.
15. Sie können nicht die Rolle des Therapeuten übernehmen. Drängen Sie darauf, daß er Hilfe in Anspruch nimmt. Stellen Sie eine solche Hilfe als etwas ganz Normales dar, dessen er sich nicht zu schämen braucht.
Es ist sicherlich nicht leicht, auf die von mir beschriebene Art vorzugehen. Die Natur des Zwangs verlangt ein Verhalten des Partners, das oft in scheinbarem Widerspruch zur Menschlichkeit steht. Aber das ist nur an der Oberfläche der Fall. Auch der Zwangskranke hat seine gesunden Persönlichkeitsanteile, die es zu stärken gilt. Der Krankheit immer wieder nachgeben hieße, sie sich endlos aubreiten lassen. Und das wäre das Ende aller Menschlichkeit.«
Hoffmann, Nicolas, Dr.: Wenn Zwänge das Leben einengen. Zwangsgedanken und Zwangshandlungen Ursachen, Behandlungsmethoden und Möglichkeiten der Selbsthilfe. 6. Auflage. Mannheim: PAL, 1997, S. 124ff