Das Tourette-Syndrom

Das Tourette-Syndrom

(Autor: Mag. Harald Hornich)

Einleitung

Das Tourette-Syndrom wurde nach Dr. Georges Albert Edouard Brutus Gilles de la Tourette (geboren: 30. Oktober 1857; verstorben: 22. Mai 1904) benannt und ist eine neuropsychiatrische Erkrankung, die durch Tics charakterisiert ist. Itard, ein französischer Arzt und Pädagoge, beschrieb bereits 1825 erstmals das auffällige Verhalten der Marquise de Dampierre. Diese hatte seiner Beschreibung nach bereits im frühen Alter von sieben Jahren merkwürdige Körperbewegungen gezeigt und seltsame Laute und obszöne Wörter von sich gegeben. 1885 veröffentlichte der französische Neurologe Gilles de la Tourette seine Studien über diese im Kindesalter beginnende und nicht nur das Leben der Patienten, sondern auch das der Angehörigen belastende Erkrankung. 

Diagnostische Kriterien

Diese Erkrankung wird als Form der Ticstörung beschrieben, bei der gegenwärtig oder in der Vergangenheit multiple motorische Tics und ein oder mehrere vokale Tics vorgekommen sind. Diese müssen aber nicht gleichzeitig auftreten. Der Beginn der Erkrankung zeigt sich vor dem 18ten Lebensjahr. Die Tics treten mehrmals täglich über mindestens ein Jahr anfallsartig auf, und Phasen ohne Tics dauern nicht länger als 2-3 aufeinanderfolgende Monate an. Die Wichtigkeit einer möglichst frühen diagnostischen Abklärung ergibt sich aus der zumeist großen Verunsicherung, nicht zu wissen, unter welcher Erkrankung der Betroffene leidet. Hinzu kommt auch, dass die Prognose und der Verlauf der Erkrankung wesentlich durch einen frühen Beginn einer Therapie (sowohl medikamentöse als auch Psychotherapie) beeinflusst werden können. 

Verlauf

Erste Symptome treten zumeist im Kindes- oder Jugendalter auf, wobei der Beginn der Störung zumeist durch ein abruptes Auftreten mehrerer Symptome gekennzeichnet ist. Während der Pubertät können Tics verstärkt auftreten und in der Adoleszenz wieder nachlassen. Die Erkrankung hält bis in das Erwachsenenalter an, wobei sich dann auch Verbesserungen der Symptome zeigen können. Die Lebenserwartung ist durch die Erkrankung nicht beeinträchtigt. Das Beschwerdebild kann in seiner Intensität durch Anspannung, Freude, Ärger, Stress, Lebensereignisse usw. deutlich verstärkt werden. Hier ist auch zu erwähnen, dass fast alle Tourette-Betroffene unter Beeinträchtigungen in sozialen, beruflichen oder anderen wichtigen Bereichen leiden, wodurch wiederum eine zusätzliche Belastung entsteht. 

Ursachen des Tourette-Syndroms 

Obwohl die Ursache der Erkrankung bis jetzt nicht gefunden wurde, wird eine Fehlfunktion des Gehirns im Bereich der Basalganglien vermutet, dem Teil des Gehirns, der wesentliche Bedeutung für die Kontrolle von Bewegungen hat. Die aktuellen Forschungsergebnisse sprechen dafür, dass ein gestörter Stoffwechsel der Neurotransmitter vorliegt. Die neurologische Forschung sieht diese Erkrankung im engen Zusammenhang mit einer Störung der Gehirnreifung, welche einen Mangel an motorischen Hemmungsmechanismen zur Folge hat.

Häufigkeit

Die Zahlen stellen nur Schätzwerte dar. Zur Zeit geht man davon aus, dass etwa 5 von 10.000 Menschen am Tourette-Syndrom erkrankt sind. Dies bedeutet, dass etwa 4.000 Menschen in der Schweiz, etwa 40.000 in Deutschland und ca. 3.500 Menschen in Österreich ein Tourette Syndrom aufweisen. 

Einteilung der Tics im Rahmen des Tourette-Syndroms 

Unter dem Begriff „Tic“ werden unwillkürliche, rasche, plötzlich einschießende, sich  wiederholende Bewegungen verstanden, die nicht willentlich gesteuert sind. Sie können sowohl einzeln oder auch serienartig auftreten. Am häufigsten findet sich  Gesichts-Tics wie Augenblinzeln, plötzliches rasches Zusammenkneifen der Augen,  Verziehen des Mundwinkels oder plötzliches Mundöffnen. Tics können völlig unabhängig von Umgebung und interaktiven Bedingungen auftreten. In der Regel treten während des Schlafs keine Tics auf. Häufig sind Tics für Nicht-Betroffene wenig nachvollziehbar. Um Tics etwas bildhafter darzustellen bieten sich Phänomene wie z.B. Schluckauf, Gähnen, der Drang zu Niesen oder auch die manchmal auftretenden Muskelzuckungen beim Einschlafen als Vergleich an. 

Einfache Tics:

  • motorisch: plötzlich einschießende Bewegungen): Augenblinzeln, Kopfrucken, Schulterbewegungen, Grimassieren , Armzucken, Armschleudern, Fingerbewegungen, Augenbrauen hochziehen, Lippen spitzen, Mund aufsperren, Stirn runzeln, Nase verziehen, Kiefer verrenken, Körperteile anspannen, etc. 
  • vokal: plötzlich einschießende Laute): Räuspern, Fiepen, Schreien, Pfeifen, Husten, Schnüffeln, Schmatzen, Quieken, Grunzen, Hicksen, Zungeschnalzen u.a. 

Komplexe Tics:

  • motorisch: Springen, Hüpfen, Klatschen, Trommeln, Objekte, sich selbst oder andere Personen berühren, Riechen, Knabbern an Mund, Lippen oder Arm, Verdrehen des Körpers, Zunge heraus strecken, während des Schreibens Stift zurückziehen, selbstverletzendes Verhalten (z.B. sich schlagen, kneifen, Kopf anschlagen, Wundmaleaufkratzen). 
  • vokal: Herausschleudern von kurzen Sätzen, die nicht im logischen Zusammenhang mit dem Gesprächsthema stehen; Ausstoßen sinnloser, obszöner oder blasphemischer Worte, Wiederholung von Lauten bzw. Wortfetzen, die gerade gehört wurden; Wiederholung von gerade selbst gesprochenen Worten usw.

Häufige Begriffe im Zusammenhang mit dem Tourette-Syndrom 

  • Echolalie: Wiederholung von Lauten, die gerade gehört wurden .
  • Echopraxie: Imitieren von Gesten Koprolalie: Obszöner und aggressiver Wortausstoß.
  • Koprolalie: Obszöner und aggressiver Wortausstoß
  • Palilalie: Wiederholungen von selbst gesprochenen Wörtern.

Zusätzliche Erkrankungen beim Tourette-Syndrom

Neben den ohnehin sehr aufsehenerregenden und stigmatisierenden Muskelzuckungen und Lautäußerungen weisen viele Tourette-Patienten zusätzliche
Beschwerden auf:

  • Zwangsgedanken und Zwangshandlungen,
  • Depression (Als Ursachen hierfür finden sich einerseits eine wahrscheinlich genetisch bedingte Neigung, andererseits können Faktoren wie Stigmatisierung oder soziale Benachteiligungen eine depressive Verstimmung fördern),
  • Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperkinetisches Syndrom (ADHS) {bei ca. 60% der Tourette-Erkrankten),
  • Angst, Phobie (Angstsymptome können sowohl in Form einer allgemeinen Ängstlichkeit, aber auch als Phobien oder Panikattacken auftreten),
  • Lernstörungen (Schwierigkeiten beim Lesen, Rechnen, Rechtschreiben),
  • Autoaggression (Selbstverletzung stellt insgesamt ein eher selten relevantes Problem im Rahmen des Tourette-Syndroms dar).

Soziale Folgen der Erkrankung

Die mit dieser Erkrankung verbundenen Beeinträchtigungen, wie Ausgrenzung von zwischenmenschlichen Beziehungen und Stigmatisierung verhindern, dass Betroffene einen einfachen Lebensweg beschreiten. Oftmals kommt es zu jahrelangem Rückzug, Isolation und zu Schwierigkeiten bei der beruflichen Eingliederung. Auch Erwachsene mit Tourette-Syndrom werden vielfach diskriminiert und in ihrer beruflichen und privaten Entfaltung eingeschränkt. Die Reaktionen der Umwelt auf dieses ungewöhnliche Verhalten sind zumeist wenig variabel: Erstaunen, Aggression, Hänseleien, Ärger, Empörung oder Unverständnis. Wie auch bei anderen neuropsychiatrischen Erkrankungen sind ebenso beim Tourette-Syndrom eine stützende Umgangsweise des Umfeldes und Akzeptanz von wesentlicher Bedeutung, um die Bandbreite ungünstiger Reaktionen auf die Erkrankung (z.B. Resignation, Ausgrenzung, Rückzugsverhalten) bewältigen zu können und um positive Perspektiven beizubehalten. Von besonderer Bedeutung sind Erfahrungen mit Ausgrenzung im Kindes- und Jugendalter (wie z.B. Tadel von Autoritätspersonen, die die Tourette-Symptome als mangelnde Disziplin interpretieren; Ausgrenzung durch Gleichaltrige). Als zusätzliche psychosoziale Belastungen finden sich veränderte Alltagsgewohnheiten (Zeitmanagement von Therapien, Umgang mit Medikamenten), Veränderungen in sozialen Gefügen, Belastungen der elterlichen Beziehung und die Erschwerung altersentsprechender Entwicklungsschritte für die Betroffenen.

Medikamentöse Behandlung

Da zur Zeit eine ursächliche Behandlung oder Heilung nicht möglich ist, erfolgt die medikamentöse Behandlung des Tourette-Syndroms rein symptomatisch und wird daher als schwierig und als nicht wirklich befriedigend gesehen. Trotzdem können derzeit verfügbare Medikamente vielen Patienten erhebliche Entlastungen bieten. Auch wenn viele Eltern von Kindern mit Tourette-Syndrom und Betroffene selbst einer medikamentösen Behandlung mit großen Vorbehalten gegenüberstehen, kann dann die Empfehlung einer medikamentösen Behandlung gegeben werden, wenn Tics stark ausgeprägt oder sehr störend sind, wenn Komplikationen drohen (Selbstverletzungen) oder wenn eine deutliche subjektive Belastung besteht (z.B. berufliche Nachteile). Hier sei jedoch auf die fachliche Unterstützung durch Kinder- und Jugendpsychiater, Kinderärzte und Nervenärzte verwiesen, welche auch über mögliche Nebenwirkungen informieren.

Psychotherapie – Verhaltenstherapie

In der Psychotherapie – Verhaltenstherapie erfolgt die Behandlung von Problemen, die Aktivierung von Ressourcen und die Erarbeitung möglicher Lösungsansätze. Die Verhaltenstherapie des Tourette-Syndroms baut auf mehrere Säulen auf. Die Konzentration auf nur einen Aspekt der Erkrankung bietet sich von Anfang an aufgrund der Wechselwirkungen der Probleme nicht an, da dies eine Ausblendung und Vernachlässigung der übrigen Bereiche zur Folge hätte. Das Ziel kompletter Symptomfreiheit kann in der Regel nicht als realistisch bezeichnet werden; eine deutliche Abnahme der Beschwerden ist jedoch sehr wahrscheinlich. Da in einer Psychotherapie die individuelle Therapieplanung eine wesentliche Rolle spielt, verstehen sich die hier infolge angeführten Therapieinhalte als beispielhaft und müssen nicht für alle Patienten gelten.

Bearbeitung der Tourette-Symptomatik

Einen wesentlichen Bestandteil stellt die Analyse der äußeren Rahmenbedingungen wie emotionale Stressoren, problembegünstigender Umstände, und körperlicher Einflüsse dar. Problem- und Stressbewältigungstraining stellen wesentliche Elemente dar. Das Ziel besteht darin, die Erkrankung im Leben des Betroffenen einzubauen.

Bearbeitung der Folgeprobleme der Erkrankung

Förderung der sozialen Kompetenz und der kommunikativen Fertigkeiten Die Erweiterung des Fertigkeitenrepertoires bezüglich sozialer Kompetenz und Kommunikationsstrategien steht hier im Vordergrund, um Probleme, die im Kontext mit Schule, sozialen Beziehungen, Beruf und Ämtern auftreten könnten, zu vermindern und die Autonomie zu wahren oder auszubauen. Weiters stellen hier der Umgang mit Ausgrenzung und Vorurteilen, mit Reaktionen auf Tics und die Bearbeitung negativer krankheitsbezogener Erfahrungen in den meisten Fällen für den Betroffenen wichtige Themenbereiche dar.

Entspannungsmethoden
Als leicht zu erlernende Techniken werden von Betroffenen immer wieder die Progressive Muskelrelaxation nach Jacobson (kurz „Jacobson“) und Kurzzeitentspannung genannt. Jedoch können auch Biofeedback, Atemtechniken, Yoga oder Autogenes Training als geeignete Entspannungsmöglichkeiten eingesetzt werden. Als Ziel der Anwendung von Entspannungstechniken können die Verminderung von Stressreaktionen und die Arbeit am Körperschema angeführt werden.

Psychoedukation
Einen weiteren Bestandteil der Psychotherapie stellt die Vermittlung von Informationen zum Störungsbild dar, die zum einem den Entwicklungsstand des Kindes und zum anderen die emotionale Situation der Familie zu berücksichtigen haben. Informationen über Entstehung, Verlauf der Erkrankung und Einflussmöglichkeiten auf Symptome werden vermittelt. Unter diesen Punkt fällt auch „Aufklärungsarbeit“ bezüglich noch immer existierender Krankheitsmythen.

Elternberatung / Einbeziehung von Lehrern
In der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie nimmt auch die Elternberatung einen wesentlichen Schwerpunkt ein, da Eltern von erkrankten Kindern sehr häufig unter Schuldgefühlen leiden, mit Enttäuschungen umgehen müssen und Sorgen oder Ängste bezüglich des Verlaufs der Erkrankung haben. Ob und wie bei schulischen Problemen eine Einbeziehung von Lehrern in das Behandlungskonzept stattfindet, ist für jedes Kind oder Jugendlichen gesondert zu überlegen.

Selbsthilfegruppen

Für viele Betroffene stellen Selbsthilfegruppen entweder eine wichtige Ergänzung zur Psychotherapie, oder eine essenzielle Unterstützung dar. Selbsthilfegruppen bieten Betroffenen Unterstützung und Beratung durch Mitbetroffene, Möglichkeiten zum Erfahrungsaustausch. Auch verstehen sich Selbsthilfegruppen als Schaltstelle zwischen Betroffenen und Therapeuten.

Mag. Harald Hornich
Klinischer Psychologe & Gesundheitspsychologe
Psychotherapeut – Verhaltenstherapie
Säuglings-, Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut (zert. lt. BMG)
A-1220 Wien
Tel: 0676 380 40 64

Anmerkung 1: Bei Fragen, welche Diagnostik oder Behandlung betreffen, wird empfohlen, psychologische, psychotherapeutische oder medizinische Unterstützung in Anspruch zu nehmen.
Anmerkung 2: Die personenbezogenen Bezeichnungen beziehen sich auf die männliche und weibliche
Form in gleicher Weise. Die männliche Form wurde zur Erleichterung der Lesbarkeit gewählt.

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Eine Antwort auf „Das Tourette-Syndrom“

  1. Sehr geehrter Herr Mag. Hornich!
    Herzlichen Dank, dass Sie uns gestatteten, den von Ihnen für unsere alte Seite verfassten Bericht zu übernehmen und hier erneut zu veröffentlichen. An dieser Stelle möchte ich es auch nicht verabsäumen, Ihnen nochmals für Ihre Mühe, uns auf der zwaenge.at zu unterstützen, zu danken.
    Liebe Grüße nach Wien!
    Theresa

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