2. Brief von Ulrike S.

Brief von einer ehemals Betroffenen an Nochbetroffene.
Liebe Zwangskranke!
Ihr habt vielleicht erfahren, dass ich Euch in regelmäßigen Abständen einen Brief schreiben möchte. Einmal monatlich, so habe ich es mir vorgenommen und mit Theresa vereinbart. Ich hoffe, daß ich so diszipliniert und schreiblustig bin, meinen Vorsatz einzuhalten. Diesmal hat sich mir das Thema regelrecht aufgedrängt. Denkt jetzt nicht an die lästigen Zwangsgedanken, die können sich auch aufdrängen. Aber die haben ja mit uns nichts zu tun. Mir wichtig ist das heutige Thema, weil ich gerade bei einer Betroffenen damit zu tun hatte. So schreibe ich also über das „Am Ball bleiben.“

Was hat das mit meiner vorhin erwähnten Betroffenen zu tun? Das will ich Euch erklären. Die junge Frau hatte schon einmal kognitive Verhaltenstherapie hinter sich gebracht. Sie hatte große Mühe auf dem Weg zum Erfolg, aber letztendlich wurde sie für die Plackerei sehr belohnt. Das Leben wurde viel leichter, sogar den Wiedereinstieg in den Beruf hatte sie geschafft. Ich möchte Sie jetzt nicht verängstigen. Nur aufmerksam drauf machen möchte ich Sie, dass Sie beim Zwang am Ende einer geglückten Therapie nicht sagen dürfen: „Ende gut, alles gut. Ich habe diese schwierige Behandlung hinter mich gebracht. Jetzt möchte ich davon nichts mehr hören.“ Ein Arzt hatte mir gesagt, dass viele Menschen nach schwerer Erkrankung, auch wenn sie wieder gesund (oder viel besser) geworden sind, nicht „alle Viere grad sein lassen dürfen“. Das müssen auch Menschen bedenken, die nicht an einer Zwangserkrankung gelitten haben. Der Alkoholsüchtige muss wachsam bleiben und darf sich nicht zu einem „Glaserl“ verleiten lassen. Menschen, die einen Bandscheibenvorfall hatten, die wissen, dass sie ihren Rücken nicht durch unvernünftiges Verhalten beleidigen dürfen. Wer einen Herzinfarkt hatte, der sollte sich an einen gesunden Lebensstil halten und sollte nicht z.B. auf der Langlaufloipe dahinrasen. Usw., usw.

Und was sollen die ehemals Betroffenen tun, damit sich der Zwang nicht wieder breit macht? Da komme ich wieder auf die vorhin erwähnte Betroffene zurück. Etliche Jahre hatte sie (praktisch) Ruhe vor dem Zwang. Dann begann er sich wieder leise zu melden. Zuerst hat er nur leicht angeklopft. Wegen Stress im Beruf wurde aus dem leise Anklopfen ein lärmendes Poltern an der Tür. Seien Sie nicht böse, wenn ich jetzt „gescheit“ rede: Hätte sich die junge Frau rechtzeitig zur Therapieauffrischung gemeldet, dann wäre sie sicher nicht wieder so tief hinunter gerutscht.

Und wäre sie immer ein wenig „am Ball“ geblieben, dann hätte sie wahrscheinlich die 
Ursache ihres Rückfalls, den Stress im Beruf, zwangsmäßig besser überstanden, (über
„Zwangsreste“, die auch ein Zurückrutschen in erhöhte Zwanghaftigkeit verursachen könnten, darüber schreibe ich vielleicht ein andermal. Jetzt ganz praktisch: 

Wie bleibt der (ehemalige) Waschzwang „am Ball?“ Mal aufs Händewaschen sollten Sie 
verzichten, obwohl Sie eigentlich „dürften“. (z.B. nach einem längeren Stadtbesuch 
heimgekommen). Die Jeans nach einer Bahnfahrt im zugegeben immer etwas schmuddeligen Zug noch einen Tag danach tragen – dann erst in die Wäsche (lüften ist „erlaubt“, aber vorsieht, auch ständiges Lüften kann zwanghaft werden! Der Zwang holt sich, was immer er bekommen kann! Er ist ein Nimmersatt, so hat ihn Theresa in der prima TV Präsentation genannt.

Der einstige Kontrollzwang könnte aus dem Haus gehen und das Licht im Gang brennen lassen, obwohl ihm das ein leicht unangenehmes Gefühl verursacht. Wer in der Krankheit immer zwanghaft Nachfragen musste, der könnte, um am Ball zu bleiben, aufs Vergewissern verzichten, auch wenn er z.B. beim Plaudern etwas überhört oder schlecht gehört hat.

Wer sich als Zwangskranker mit Wegwerfen und Weggeben sehr schwer getan hat, könnte immer wieder einmal Schubladen durchsehen mit dem Vorsatz: „Irgendwas kommt weg, auch wenn ich nicht ganz sicher bin, ob ich/s nicht doch noch einmal brauche.“ Und solche, die an ausschließlichen Zwangsgedanken gelitten haben? Die sollten probieren, ob sie noch so „mutig“ sind wie in Therapiezeiten. Z.B.: „Wenn ich jetzt den Fernseher einschalte, dann…. .“(passiert dies, das oder jenes). Wer Angst hatte „Habe ich etwas gesagt, was andere nicht hören dürften“, der sollte sich immer wieder einmal getrauen, so einen „unerlaubten“ Satz vor sich hinzumurmeln. 

Dieses „am Ball bleiben“ ist wie ein immer wieder Auffrischen von in der Therapie Gelerntem. Sie kennen doch dieses Sprichwort: „Das halbe Leben ist Gewohnheit.“ Bei „uns“ ist es die Gewohnheit, früheres, in der Krankheit Gefürchtetes, immer wieder einmal freiwillig zu versuchen.

Bis zum nächsten Mal 
Eure Ulrike S. 

Bücher: „„Der Weg aus der Zwangserkrankung“ und „“Hilfreiche Briefe an
Zwangskranke“, jeweils mit einem Vorwort von G. Crombach und einem Nachwort von 
Prof. H. Reinecker; Verlag Vandenhoeck (Transparent).

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