3. Brief von Ulrike S.

Dritter Brief von einer ehemals Betroffenen an Nochbetroffene. „Liebe Zwangskranke!
Am liebsten schreibe ich Euch, wenn ich gerade etwas erlebt habe, bei dem ich mir denke: Das wäre geeignet, um wieder einen Brief an Euch zu schreiben. Dann kann ich spontan schreiben. Dies ist auch diesmal wieder der Fall.
Ich bin einem jungen Mann begegnet, der an Bildern leidet, die ihn erschrecken. Vernünftigerweise hatte er deshalb eine Therapie gesucht. Da aber hatte er richtiges Pech. Viele von Euch hätten ihm sagen können: „Das, worunter Du leidest, ist eine Zwangsstörung.“ 
In den 1 1/2 Jahren an Therapie war das Wort „“Zwang“ nie erwähnt worden. Die erschreckenden Bilder waren in der Therapie ständig analysiert worden: „“Weshalb habe ich solche Bilder?“ und vor allem: „“Was haben diese Bilder zu bedeuten?“ Der arme Patient wusste nun durch diese „“Therapie“ um vieles aus seiner Vergangenheit, da war jeder Winkel ausgeleuchtet worden. Die erschreckenden Bilder (in denen sich der Arme immer als arger Übeltäter sah) waren insofern gedeutet worden, daß der Patient unter aggressiven Zuständen leidet. Eines Tages stellte der junge Mann recht ängstlich die Frage an den Therapeuten: „“Glauben Sie, daß ich in Wirklichkeit so aggressiv handeln könnte?“ Diese Frage wurde vom Therapeuten bejaht. Nach dieser Meldung hatte der arme Heiter das Gefühl: „Jetzt kann ich mir selbst nicht mehr über den Weg trauen. Ich bin mir meiner nicht mehr sicher.“ Ganz gebrochen und verzagt kam er nach Hause. Natürlich häuften sich die Bilder nach dieser „“Therapiestunde“ noch mehr!
Vom Umgang mit solchen Bildern, von den Techniken, damit in der Gegenwart und Zukunft umgehen zu lernen, um sie wieder loszubekommen, davon hatte der Unglückswurm in diesen 1 1/2 verlorenen Jahren nie gehört.
Leider war seine Therapie auch nicht in Händen eines Verhaltenstherapeuten, der spezialisiert auf Zwänge war. Auch Verhaltenstherapeuten berücksichtigen und besprechen die Vergangenheit des Hilfesuchenden, sein Elternhaus, sein Aufwachsen. Das gehört dazu. Aber der Schwerpunkt liegt in der Hilfestellung: Wie werde ich mit meinen Zwängen fertig und: Wie kann ich mir helfen lassen, um im gegenwärtigen Leben etwas zu verändern – an meinen Verhaltensweisen, an meiner Persönlichkeit, an meinen Beziehungen zu anderen und zu mir selbst, an meinen gegenwärtigen Lebensproblemen. Sicher weisen Zwänge auf etwas hin. Im Fall des oben genannten Patienten war es seine Hilflosigkeit im sich Wehren. Der Zwang, der Übertreiber und Vergrößerer, hat als Möglichkeit der Problemlösung natürlich wieder völlig über die Stränge gehauen und den Patienten unter wild aggressiven Bildern und Vorstellungen leiden lassen. In der Kognitiven Verhaltenstherapie lernt er nun, dass diese Bilder mit ihm nichts zu tun haben, nach dem Motto: Ich bin nicht mein Zwang. Er lernt Fertigkeiten im Umgang mit zwanghaften Bildern und Vorstellungen. Er lernt, den Bildern keine Bedeutung zuzumessen, nicht zu erschrecken, wenn sie da sind: „ „Ich habe halt noch zwanghafte Bilder, die werden im Lauf der Therapie schon vergehen!“ Er lernt sogar, die Bilder zuzulassen, weil man weder Gedanken noch Bilder und Vorstellungen krampfhaft wegschicken kann. Vieles wird er lernen in der Therapie gegen den Zwang. Und er wird lernen, wie man sich in der Realität, im Umgang mit Menschen im täglichen Leben wehren kann. Er wird lernen, daß er seine Bedürfnisse kundtun darf.
Der Zwang ist ein Teil von mir, sagen öfters Patienten und auch von Therapeuten bekommen sie manchmal solches zu hören. Das gebrochenen Bein kann auch ein Teil von mir sein und ich werde danach trachten, daß es wieder in Ordnung kommt. Ein Hang zum Jähzorn mit ungerechtem Verhalten und haltlosen Beschuldigungen gegenüber anderen kann auch ein Teil von mir sein, und trotzdem werde ich klugerweise daran „“arbeiten“, mich zu mäßigen und zu lernen, respektvoll mit meinen Mitmenschen umzugehen. Sicher ruht im auch bereits gesunden, aber ehemals Zwangskranken etwas, das wieder aufbrechen möchte in Zeitenleichter Verletzlichkeit. (Krankheit, Verlust von lieben Menschen, sehr kränkender Behandlung durch Mitmenschen, Mobbing…). Deshalb auch meine Aufforderung im vorigen Brief an Euch: Immer am Ball bleiben. Aber den Zwang als Teil von mir zu betrachten, dagegen wehre ich mich als ehemals Betroffene. Ich habe diesen Teil ablegen dürfen und bin wieder die „“Frühere“. So sehe ich das!
Herzliche Grüße
Eure Ulrike S.
(Bücher: „„Der Weg aus der Zwangserkrankung“ (Bericht einer Betroffenen für ihre Leidensgefährten); „„Hilfreiche Briefe an Zwangskranke“. Ulrike S., G.Crombach, H.Reinecker, Verlag Vandenhoek Transparent

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