Cotherapie

Ich gehe den Weg mit Dir –
Cotherapeutische Ansätze
auf dem Weg aus der Zwangserkrankung
Autorin: „Ulrike S.“, ehemals Betroffene und Cotherapeutin

Leider ist die Cotherapie noch noch nicht ausreichend etabliert. Sie wäre für viele Zwangspatienten eine zusätzliche Unterstützung – die Hilfe vor Ort – eine Teamarbeit zwischen Cotherapeut, Therapeut und Patient.

Was bedeutet Cotherapie?
Nicht für jeden das gleiche, das habe ich seinerzeit erfahren. Das hatte sich nach einer Therapiesitzung zu dritt zwischen dem Therapeuten, dem Patienten und mir gezeigt. In der Therapiestunde war von vielerlei Wichtigem und Hilfreichem die Rede. Es wurde von der Motivation gesprochen. Schliesslich muss der Patient auch wissen, wofür er sich die Anstrengungen einer Therapie antut. Vom Aushalten negativer Gefühle war die Rede, da kommt niemand in der Therapie drum herum. Der Patient wurde ermutigt, das Gespräch tat ihm gut. Um diese Rolle hatte ich ja manchmal den Therapeuten beneidet. Die Zeit mit ihm fanden fast alle angenehm.

Die Cotherapie hingegen ist sehr praktisch ausgerichtet und eben auch etwas ungemütlich. Zuerst werden im Beisein mit dem Therapeuten die Übungen besprochen, die geplant sind. Vom Reden allein wird kein Zwangskranker gesund. Danach sollte der besprochene Übungsgang durch die Straßen folgen.

Ich musste noch den nächsten Termin für die Therapiestunde zu dritt notieren, dann war ich bereit. Nicht so der Patient. Denn der hatte schnell und klammheimlich das Weite gesucht. Ich suchte ihn auf der Toilette, im Treppenhaus und unten auf der Straße. Er war weg! Ich muss gestehen, so ein plötzlicher Abgang ist mir noch nie zuvor passiert, und der junge Mann kann heute über sein damaliges Verhalten schon lächeln. Jetzt löst er das Problem geschickter. Wenn ihm etwas zu schwierig erscheint, dann sagt er das. Gegen seinen Willen braucht er keinen Schritt zu tun. Aber ohne die cotherapeutische Stütze und Ermunterung hätte er wohl auch keinen neuen Schritt zu tun gewagt.

Dass nicht unbedingt alle Patienten Cotherapie mit großer Begeisterung begrüßen, war mir mittlerweile klar. Das heißt, eigentlich war es so: Cotherapie wollten viele, schließlich war man für jede Hilfe dankbar. Ich konnte zwar den Patienten beim Aushalten von negativen Gefühlen während und nach dem Üben unterstützen, aber eben, abnehmen konnte ich es ihm nicht. Und dass ich darauf achten musste, den Patienten tatkräftig zu unterstützen, das war meine oft sehr schöne, aber häufig auch meine zunächst etwas undankbare Rolle.

Schwimmen lernen, ohne nass zu werden – hieß das bei uns, wenn ein Patient so gerne gesund werden mochte, aber die Konfrontation mit dem Zwang scheute. Ohne nass zu werden geht es eben nicht, will man den Zwang loswerden. Damit das Nasswerden leichter fällt, damit man sich nicht so viel allein herumplagen muss mit so viel Unsicherheiten und Fragen und sich oft in schweren Augenblicken nicht so alleingelassen fühlen muss, dabei hilft die Cotherapie.

Cotherapie ermöglicht oft den näheren Kontakt zum Patienten. Das gemeinsame Tun verbindet. Das gemeinsame Erleben von schwierigen Stunden und von viel Freude machte uns eine Weile förmlich zu Spießgesellen gegen den Zwang.

Noch ein Gedanke zum Modell lernen. Am Modell lernen heißt folgendes:
Ich mache als Cotherapeut zunächst dem Patienten das vor, was ihm selbst schwer fällt. Dies wirkt vertrauenserweckend. Fast wie der Vorkoster von Speisen in früheren Zeiten am königlichen Hof. Wenn ich es riskiere, im Krankenhaus die Toilette zu benützen, dann überzeugt das.
Da argumentierte ich: „“Ich mag Sie zwar sehr gern, aber wenn hier Gefahr von Ansteckung durch Aids oder Hepatitis oder sonst was wäre, dann würde ich mein Leben nicht für Sie riskieren.“ Ich betreute einen Patienten, der glaubte, dass eine Krebserkrankung ansteckend sei. Dass dem nicht so ist, glaubte er mittlerweile beinahe. Dass ich mit ihm in die Abteilung für Strahlentherapie für Krebserkrankte ging, dort mit ihm am Kaffeeautomaten Pause machte, die Zeitschriften anfasste, im Warteraum Platz nahm und die Toilette benützte, das überzeugte ihn fast noch mehr als all die Erkenntnisse der Wissenschaft.

Wenn die Toilette für mich zu ekelig gewesen wäre, hätte sie der Patient auch nicht benützen müssen. Dann hätten wir eben eine andere gesucht. Übende Zwangspatienten und Patientinnen müssen nicht alles akzeptieren, sondern dürfen gemeinsam mit dem Therapeuten oder Cotherapeuten auch Standards lernen. Anschliessend konnten wir gleich das angemessene Händewaschen üben.
So – Schulter an Schulter – die Zwangsängste überwinden, Schritt für Schritt vorzeigen, dabei reden, überzeugen, begründen, weshalb das so sein darf, das Aushalten durch Mutmachen erleichtern, das ist Cotherapie. Das Vormachen ist Gold wert, finde ich.

„Blättern Sie im Therapiebilderbuch!“, das sagte ich immer wieder aufmunternd zu Patienten, die unsicher waren. „“Schlagen Sie in diesem „Bilderbuch in Ihrem Kopf immer wieder die Seite auf, die Sie gerade brauchen. Da ist z. B. das Bild, wo ich Ihnen gezeigt habe, wie man Wäsche spült. Oder das Bild, als wir durch die Straßen gingen. Ich voraus und Sie hinter mir. Da habe ich Ihnen gezeigt, wie man an Menschen anstreifen darf, ohne „allzu schmutzig zu werden (das wäre die Angst des Waschzwangs) oder einen alten Menschen gleich umzuschubsen (das könnte der allzu verantwortungsvolle Schuldzwang befürchten). Erinnern Sie sich noch? Haben Sie das „Bild noch vor Augen?“
Natürlich hatte er oder sie es noch vor Augen. So wichtige Dinge vergisst man nicht. Es sind Hilfestellungen, wie man mit dem Zwang fertig wird, die behält man sehr lange im Gedächtnis.

Es war für mich als Cotherapeutin umwerfend beglückend mit dem Patienten kleine Erfolgserlebnisse zu haben -> Zwangstherapie ist Erlebenstherapie, es zeigt, wie sinnvoll Cotherapie ist. Manchmal tat mir der Therapeut beinahe leid, weil er all das nicht miterleben konnte. Aber wir erzählten ja ausführlich in der Therapiestunde zu dritt darüber. Cotherapie ist Teamarbeit mit Therapeut und Patient. Sie ist der Teil der Therapie, der beim Kampf gegen den Zwang sehr praktisch und unmittelbar mit dabei ist. Es ist die unverzichtbare Hilfe vor Ort!
Ich finde es schade, dass sich diese Art der Therapieunterstützung noch nicht ausreichend etabliert hat.

Cotherapie fing manchmal nur damit an, dass wir zwischen den Therapiestunden das mit dem Therapeuten Erarbeitete nochmals durchsprachen, bevor wir es mit ins eigentliche Üben einbauten. Der an der Unsicherheitskrankheit Leidende mochte diese Wiederholungen sehr gern. „Ich kann’s gar nicht oft genug hören“, hieß es in der ersten Zeit der Therapie immer wieder.
„Cotherapie verkürzt die Therapiezeit“, hatte mir eine Patientin einmal gesagt, als ich sie fragte, was diese zusätzliche Hilfe ihr eigentlich bedeutete.

Eine verkürzte Therapie hat einen zusätzlich angenehmen Nebeneffekt. Sie ist nicht nur kräfteschonender für Patient und Umfeld – der Patient wird nicht so leicht therapiemüde und therapieunlustig – sondern sie ist auch kostenschonender. Diese Erkenntnis sollten sich die Krankenkassen zu eigen machen. Der durch Cotherapie entlastete Therapeut kann durch Unterstützung durch Cotherapeuten eine größere Anzahl von Zwangspatienten in Behandlung nehmen.

Dass man einen Cotherapeuten oder eine Cotherapeutin (für gewöhnlich!) mit weniger schlechtem Gewissen anrufen kann als den Therapeuten, das finden viele Patienten besonders hilfreich. Das bot ich an. Das Telefon gehörte zu meinem zusätzlichen Hilfsangebot. Das Üben und Mutzusprechen übers Telefon unterstützte den Patienten bei überraschenden Zwangssituationen. Das Telefon diente nicht nur als erste Hilfe, sondern auch als Freudenkundgebung, wenn etwas gelungen war.

Ich musste diesem Gebrauch vom Telefon natürlich auch Grenzen setzen. „“Schade, dass Sie kein Handy haben“, hatte eine Patientin bedauert. Das war nicht schade, sondern geplant und ein Selbstschutz. Auch ein Cotherpeut kann nicht rund um die Uhr erreichbar sein.

Abschliessend möchte ich noch etwas sagen, das mir sehr wichtig ist. Es hat nicht unbedingt mit Cotherapie zu tun, aber das Problem taucht immer wieder bei der Behandlung von Zwangspatienten auf – mir erging es selbst nicht anders.
Der Patient, der übungsweise alte Vorstellungen aufgeben muss, hat immer wieder die Befürchtung, er könnte über die Therapie etwas verlieren. Da wird man beim Üben leicht zum Täter, der dem Patienten etwas wegnimmt.

Da war zum Beispiel eine junge Frau, die sehr fürchtete, die Therapie könnte ihr das Zuhause wegnehmen. Sie würde nicht mehr so gerne wie früher drin wohnen wollen. Die Therapie könnte ihr den letzten Sicherheitsort nehmen.
Ein Zwangspatient mit Essstörungen meinte, man wolle ihm sein „“Wohlfühlgewicht“ nehmen.
Ich selbst hatte Befürchtungen, etwas abgeben zu müssen, nachdem meine Therapie begonnen hatte. „Werde ich mich noch einmal in meinem neuen Daheim so sicher und wohlfühlen wie in der Zeit vor der Therapie?“ Da waren meine eigenen vier Wände mein letzter, allerdings sehr fragwürdiger Zufluchtsort. Von wegen wohlfühlen! Das war oft nur ein kurzfristiges Wohlgefühl, das kennen Sie bestimmt. Doch durch das gesundmachende Üben ist mir meine zwangsgehütete Wohnung zunächst auch abhanden gekommen. Ich kann mich noch erinnern, das ist nun beinahe dreizehn Jahre her, wie ich die Räume mit Wehmut angeschaut habe. Nichts mehr war wie früher. Dass ich einer Illusion nachgejagt war, das habe ich im Lauf der Therapie erfahren und ich wäre froh gewesen, ein Therapeut oder Cotherapeut hätte mir schon viel früher dabei geholfen.

Ein Patient beklagte, dass ihm das neue Therapieverhalten seine weisse Weste wegnähme. Diese vermeintliche weiße Weste hatte er zwanghaft gehütet. Freisein von Schuld wollte er über das Zwangsverhalten bewahren. Dass Schuld zum Menschen gehört, das war zunächst auch ein schmerzhafter Lernprozess für ihn. Auch das konnte er mittels Therapie und Cotherapie erfahren.

Glauben Sie mir: Der Zwang kann niemals etwas Gutes bewirken. Es ist immer wieder wichtig, auch beim praktischen Üben, gerade unmittelbar dann, wenn es passiert, darauf hinzuweisen: „ „Das, woran Sie sich jetzt noch klammern, das wird Ihnen später nicht mehr wichtig sein.“ Das heisst nicht, dass Sie sich nicht gewisse Vorlieben bewahren dürfen. Ich z. B. mag es heute noch, frisch zu sein und mit nicht allzu ungepflegten Menschen umgehen zu müssen. Das ist eine ganz normale Haltung, die ich mir auch heute noch zugestehe. Therapie krempelt nicht um, aber sie gibt Entscheidungsfreiheit in Dingen, in denen Sie früher durch den Zwang gefangen waren. Es passt zu den Lügen des Zwanges, wenn er behauptet, etwas zu geben, etwas zu bewahren. Es sei denn, der Zwang hat eine Funktion, aber dann sollte über das Gespräch mit dem Therapeuten eine andere Möglichkeit zur Problemlösung gefunden werden, als über den Zwang. Und selbst diese Erkenntnis nahmen wir dann in die Cotherapie mit hinein.

Lassen Sie sich überzeugen und nehmen Sie helfende Hände vertrauensvoll an! Das wünsche ich mir sehr für alle Betroffenen!

Ich, „Ulrike S.“, habe selbst viele Jahre lang an einer schweren Zwangsstörung gelitten und mich durch eine Kognitive Verhaltenstherapie davon befreit. Im Anschluß daran, unterstützte ich als Cotherapeutin meinen damaligen Therapeuten bei der Arbeit mit Zwangskranken.

Folgende Bücher in Zusammenarbeit mit Dr. G. Crombach (Facharzt für Psychiatrie und Neurologie) und Prof. Dr. H. Reinecker (Lehrstuhlinhaber für Klinische Psychologie/ Psychotherapie) sind im Handel erhältlich:

* Der Weg aus der Zwangserkrankung Bericht einer Betroffenen für ihre
Leidensgefährten, Vandenhoeck & Ruprecht, ISBN 3-525-01724-3

* Hilfreiche Briefe an Zwangskranke, Vandenhoeck & Ruprecht, ISBN 3-525-01465-1

* ABC für Zwangserkrankte, Tipps einer ehemals Betroffenen,
Vandenhoeck & Ruprecht ISBN 3-525-01465-1

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