10. Brief von Ulrike S.

Liebe Betroffene! 
Heute möchte ich für Euch einiges niederschreiben, was Euch Hilfe zur Selbsthilfe im Besiegen der Zwangserkrankung bringen könnte, und was ich in eigener Therapie und später dann auch als Kotherapeutin unterstützend gefunden habe. 
Entschuldigt bitte, wenn meine Ratschläge nicht präzis geordnet daherkommen. Ich schreibe einfach frisch drauflos, was mir so einfällt. 
Ich war selbst sehr lange zwangskrank, anschließend an die Therapie habe ich viele Jahre als Cotherapeutin gearbeitet und habe heute noch Begegnungen und Telefonkontakte mit Ratsuchenden. 
Die „Hotline“ auf der zwaenge.at haben Theresa und ich nun auf zwei Tage der Woche 
ausgedehnt, macht Gebrauch davon, wenn Ihr das möchtet! Das würde ich auch schon als Hilfe zur Selbsthilfe anbieten. 
Was hat mir geholfen, was habe ich erfahren, das anderen hilfreich war – drüber möchte ich heute mit Euch sprechen.
Sich in Therapie begeben: 
Mut sollt Ihr aufbringen, Euch in Therapie zu begeben, obwohl Ihr noch nicht so recht wisst, was auf Euch zukommt, wie Ihr mit dem Therapeuten zurechtkommen werdet, wie groß der Erfolg sein wird. Bedenkt, dass das Zweifeln uns Zwangskranke gerne begleiten möchte, da mischt sich der Zwang auch gerne bei der Therapeutensuche ein. Ihr könnt Euch erkundigen: Welche Therapeuten haben anderen gut geholfen, welche würden diese empfehlen. Das wäre zum Beispiel bei Selbsthilfegruppen möglich. Ihr könnt Euch gezielt und beherzt bei einem etwaigen Therapeuten erkundigen, ob seine Erfahrung mit Zwangspatienten groß ist und ob er Verhaltenstherapie für Zwangskranke anbietet. Fragt ihn ruhig, mit wie vielen Patienten er schon gearbeitet hat.
Zu Hausbesuchen möchte ich gleich etwas bemerken. Man möchte vielleicht annehmen, Betroffene würden von vorneherein Hilfe gegen den Zwang in ihrem Zuhause sehr begrüßen. Das ist nicht immer so, das habe ich erst kürzlich bei einer jungen Frau erfahren. Da habe ich ihr gesagt, es geschehe nichts, was sie nicht selbst wolle. Die Vorstellungen über Hilfe in der Therapie ändern sich ja auch durch Fortschritte in der Behandlung. Da wird der Mut dann auch schon größer. Anfangs muss das Problem Hausbesuche nicht besprochen werden, wenn diese Vorstellung Angst macht. Wenn Hilfe in dieser Form sehr erwünscht wäre, dann sollte Therapeut oder Therapeutin schon bereit sein, auch in dieser Weise zu unterstützen. Letztendlich solltet Ihr dem Suchen ein Ende machen können und lernen, einem Therapeuten oder einer Therapeutin das Vertrauen zu schenken. Ihm auch zugestehen können, daß er es ausschließlich gut mit Euch meint. Das Finden eines guten Therapeuten gehört manchmal zu den Schwierigkeiten, die ein Zwangspatient auf sich nehmen muß. Nicht aufgeben, ohne Therapie werdet ihr den Zwang wohl nicht losbekommen. Die Suche nicht aufgeben, nicht resignieren! Bei der zwaenge.at nachfragen. 
Mit sich Geduld haben. Oft geht der Heilungsprozess nicht so schnell von statten, wie man sich das anfangs vorgestellt hat. Mit „links“ und „zwischendurch“ funktioniert Therapie nicht – so eine Haltung könnte Enttäuschungen bringen. Die Mitarbeit 
Sehr engagiert sein. Die Zeit zwischen den Therapiestunden nützen. Anregungen ernst nehmen, ausprobieren, auch selbst über Lösungsmöglichkeiten nachdenken, vor allem im fortgeschrittenen Stadium der Therapie. Schwierigkeiten rückmelden. Bei der Bitte um Unterstützung dürft Ihr auch hartnäckig sein, das beweist nur, dass Ihr motiviert seid. Sich nicht scheuen und schämen, bereits Besprochenes immer wieder nachzufragen, bis ihr eigenverantwortlich handeln und denken lernt. 
Positive, vertrauensvolle Einstellung zu Medikamenten dürft Ihr haben, wenn sie der Therapeut empfiehlt. Die Therapeutin, der Therapeut sind es, die die Handhabung von Medikamenten gelernt haben. 
Patienten haben ein großes Mitspracherecht bei dem, was jeweils getan wird. Das Tagebuch 
Für mich war es hilfreich für: 
Die Vorbereitung auf die Therapiestunde, zum mir Einprägen von Gelerntem nach der Therapiestunde, zum Angstabbau, zum Niederschreiben von Erfolgen; bei depressiver Stimmung als „Ansprechpartner“. Als „Nachschlagbuch“: Wie habe ich das damals geschafft – so mache ich es jetzt auch. Zur Vorbereitung auf die nächste Therapiestunde, da habe ich Unsicherheiten und Fragen notiert, um die Zeit dort gut nützen zu können. Zum Freude niederschreiben, wenn etwas gelungen ist. Und letztendlich als Gedächtnisstütze, wenn Ihr anderen auch einmal schriftlich Hilfe zur Selbsthilfe geben möchtet. Im „Trubel der Therapie, im Ansturm neuer Erkenntnisse geht so manches im Gedächtnis verloren. Da kann es nützlich sein, etwas niederzuschreiben. Und wenn Ihr nur in einem ganz privaten Kalender immer wieder kleine Notizen macht über das Therapiegeschehen und über so manches, das Ihr anstrebt, dann wäre das sicher auch schon hilfreich. 
Der Umgang mit sich selbst. Nicht mit zusammengebissenen Zähnen braucht Ihr zu üben. Auf Eure Gefühle sollt Ihr achten (mit Hilfe des Therapeuten), wenn Ihr Euch dem Zwang zu widersetzen lernt. Ich selbst habe mich nach der ersten intensiven Konfrontation gefühlt, als hätte ich die Orientierung über Raum und Zeit und über mich selbst verloren. Es passiert schon was, wenn der Zwang als Sicherheit und Struktur den wahren Bedürfnissen im Leben weichen muss. 
Allzu große Strenge beim Üben könnte zu einer Verschiebung zum allzu strengen Umgang mit sich selbst auf anderer Ebene nach sich ziehen, so habe ich kürzlich gelernt. Aber am Aushalten und Durchhalten führt leider kein Weg vorbei! 
Das Genießen, die Liebe zu sich selbst neu entwickeln und wieder entdecken lernen. Auch hier unterstützt Therapie. 
In schwierigen Situationen: 
Fragt Euch: Wer möchte, dass ich so handle und denke, der Zwang oder ich? Was möchte ich wirklich ? Was hindert mich dran, es zu tun? Was lässt mich so ängstlich denken? Die eigentliche Harmlosigkeit in Zwangsangelegenheiten wieder erkennen lernen.

Die andere ist die Scheinwelt, die der Zwang „vorspiegelt. Ein Patient von N. Hoffmann hat diese zweite Bühne „das Kasperltheater“ genannt, das er nicht mehr mitmachen will. 
Lieber alltagsbezogen üben. Das neue Verhalten in den Alltag eingebaut üben. Allerdings die Vielfalt des Alltagslebens wieder zulassen. 
Wenn abseits des Zwanges der Umgang mit Menschen schwierig ist, so gehört das in die Therapie mit hineingenommen. Nicht nur der Zwang wird behandelt. Die Bewältigung von vergangenen , gegenwärtigen und zukünftigen Problemen abseits vom Zwang gehören mit zur Therapie. 
Überlegen: Was habe ich früher gerne getan? Was würde ich gerne tun, wäre da nicht die Behinderung durch den Zwang. 
Selbsthilfebücher therapiebegleitend lesen. Auch später, nach Therapieabschluss, ab und zu zur Hand nehmen, um auf dem laufenden, um „am Ball“ zu bleiben. 
Selbsthilfegruppen: Vorteile und Nachteile einer Gruppe für sich selbst abwägen (darüber gibt es Literatur und die Beratung durch den Therapeuten). 
Habe ich etwas vergessen, das Euch helfen könnte? Sicher, aber macht vom Telefonangebot Gebrauch und bedenkt: So manche Frage löst sich erst innerhalb und im Laufe einer Therapie. 
Alles erdenklich Gute wünsche ich Euch und die Freude über Erfolge. Lobt Euch selbst und lasst Euch loben: Jeder Zwang weniger ist ein riesen Erfolg! 
Eure Ulrike S. 
Bücher: „Der Weg aus der Zwangserkrankung“, „Hilfreiche Briefe an Zwangskranke“, „ABC für Zwangserkrankte“, Tipps einer ehemals Betroffenen. Verlag Vandenhoeck und Ruprecht/Göttingen. Auch über amazon erhältlich.

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