7. Brief von Ulrike S.

Brief von einer ehemals Betroffenen (die aber auch „am Ball bleiben“ muss) an Nochbetroffene!
Liebe Zwangskranke!
Während ich Euch schreibe, schaue ich immer wieder einmal auf die Birke, die draußen vor dem Fenster steht. Sie ist wunderschön gefärbt um diese Jahreszeit, ich sehe das nicht nur sondern ich empfinde das Schöne auch. Ich habe schon so oft auf diese Birke geschaut, ich wohne hier ja schon seit „ewigen Zeiten“. Aber ich erinnere mich, wie ich trotz der Schönheit dieses Baumes zu allen Jahreszeiten früher oft mit viel Wehmut und Sehnsucht nach psychischer Gesundheit hinaus geschaut habe.
Jetzt aber zur Sache! Kürzlich ist mir eine Merkwürdigkeit bewusst geworden, davon möchte ich Euch jetzt erzählen. Ich kenne zwei Frauen, die im selben Haus, auf der selben Etage wohnen – gerade einander gegenüber. Ich will sie Euch vorstellen. Die eine Frau kenne ich gut, nennen wir sie einfach Frau A. Ich weiß so manches von ihren Gewohnheiten und Vorlieben. (Ich beobachte gerne das Verhalten anderer – ich habe das als Erkrankte oft neidvoll getan und dann in der Therapie, um von anderen zu lernen.) Die andere Frau, sie ist für uns Frau B, die habe ich nur einmal kurz gesehen. Sie betreibt einen kleinen Obststand in der Stadt, beim Umgang mit Kunden verhält sie sich locker und unauffällig. Ich weiß aber so manches von ihr aus den Erzählungen der mir gut bekannten Frau A. Mit Frau A. habe ich gerne Kontakt. Wir reden viel über unsere Hobbies, über unsere Familie, über die netten und weniger netten Gepflogenheiten unserer Kinder. Auch Hausfrauenangelegenheiten diskutieren wir. Von meiner „Vergangenheit“ weiß Frau A. nur andeutungsweise. Ich erzähle Euch jetzt, was mir, der ehemals Zwangskranken, bei Frau A und Frau B auffällt. Frau A sagt mit Überzeugung, daß sie sofort – vom Einkauf oder einem Stadtbesuch heimgekommen – die Hände wäscht. Das sei das erste, was sie macht, wenn sie heimkommt. Der kleine Schulbub, der bei ihr oft zu Besuch ist, hat das auch schon übernommen. Wenn der Kleine von der Wohnung ins Stiegenhaus möchte, dann legt sie Wert darauf, dass er das nicht in den Wohnungssocken macht. Das findet sie grauslig. Einmal haben wir in der Stadt Tüteneis gegessen. Da hat meine Bekannte den unteren Teil der Waffeltüte in einen Abfalleimer geworfen. Der sei für sie unhygienisch und schmutzig. Dass sie nicht gerne fremde Toiletten benützt, das konnte mir, die solches leicht beobachtet, nicht entgehen. Es kommt vor, dass sie deshalb unterwegs nur wenig trinkt. Für sie „Unappetitliches“, das ich durch die Therapie eigentlich gar nicht mehr scheue, das fasst sie mit spitzen Fingern an und wäscht sich, wenn möglich, die Hände. Frau A wäre in der Therapie zum „Modelllernen“ für mich nicht gut gewesen. Da hätte ich mir sagen müssen: Solche Eigenheiten darf sich diese erlauben, ich nicht. Dass Frau A. nicht zwanghaft handelt, davon bin ich völlig überzeugt. Früher, als ich noch nicht so viele Erfahrungen mit Zwangskranken gemacht hatte, da hätte ich gemeint: Frau A braucht eine Therapie. So, nun erzähle ich Euch vom „Gegenüber“ im Treppenhaus, von unserer sogenannten Frau B. Wie gesagt Frau B. kenne ich nur aus den Erzählungen der Frau A. und aus meinen Beobachtungen im Treppenhaus. Dort, vor ihrer Wohnungstüre, beansprucht sie immer mehr Platz fiir Dinge, die „nach draußen“ gehören. In der Nachbarschaft ist sie bekannt als unerbittliche Ausbeutlerin von Kleidern, Teppichen und dergleichen. Unerbittlich, weil alle Proteste von ihrem Umfeld nichts nützen. Sie betritt schon frühmorgens das Zimmer des noch schlafenden und verständlicherweise heftig protestierenden Sohnes – sie muss dort Staub wischen. Am liebsten ist ihr, wenn die Familie nicht da ist, dann kann sie ungestört staubsaugen und putzen. Wenn die Familie nicht da ist und alles geputzt ist dann fühlt sie sich am wohlsten, sagt sie. Der Gatte ist oft verzweifelt, aber wehrlos. Es gibt hinter verschlossenen Türen viele lautstarke Auseinandersetzungen. Bei Frau B. sage ich: Die arme Frau sollte sich in Therapie begeben. Weshalb die eine nicht, die andere schon? Ich bin mir sicher, dass ich mich hier nicht irre. Bei Frau A sehe ich nur sogenannte Vorlieben. Wenn es sein muss, benutzt sie die fremde Toilette auch wenn diese nicht so sauber ist. Sie kann auch mal drüber hinwegsehen, wenn der Bub mit Schuhen in die Wohnung stürmt, weil er schnell etwas wichtiges erzählen muss. Da schimpft sie nicht und putzt nicht hinterher. Wenn wir gemeinsam nach einem Stadtbesuch ihre Wohnung betreten, dann wäscht sie ihre Hände nicht. Das kann ich beobachten. Kurz, Frau A. hat ihre Vorlieben, vielleicht sind diese etwas übertrieben, aber sie kann mühelos auch anders. Frau B. kann nicht anders, sie selbst leidet unter ihren Sauberkeitsansprüchen. Soviel Arbeit, klagt sie. Und schließlich muss sie sich von Nachbarn und Kindern allerhand an Protesten gefallen lassen und sich trotzdem „durchsetzen“. Sie erfährt, wie ihre Beziehung leidet. Der Gatte wagt kaum Widerspruch, klagt aber rundum bei Nachbarn und Bekannten über sein Los. Das ist die „vergleichende Geschichte“ von Frau A. und Frau B. Wenn Sie zwangskrank sind oder es waren, dann dürfen Sie auch Ihre Vorlieben haben. Aber stellen Sie diese ab und zu auf den Prüfstand, der Zwang dürfte dabei nichts zu reden haben. Immer wieder einmal anders handeln können, das müsste möglich sein. Flexibel und vernünftig und praktisch, den Umständen entsprechend. Vorlieben zu haben, das verursacht kein Leid, das geschieht freiwillig.

Es grüßt Euch herzlich Eure Ulrike S.
(Bücher „Der Weg aus der Zwangserkrankung“ „Hilfreiche Briefe an Zwangskranke“ von Ulrike S.. G. Crombach, H. Reinecker Verlag Vandenhoeck/Ruprecht, Göttingen

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